Nackenschmerzen zählen zu den häufigsten muskuloskelettalen Beschwerden in der Bevölkerung. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Im Kurzinterview gibt Physiotherapeut Christoph Thalhamer Einblick in relevante Literatur, die therapeutische Triage und verrät, ob es eine Übung gibt, die er in jeden Trainingsplan für Patient:innen mit Nackenschmerzen packt.
OSINSTITUT: Nackenschmerzen sind in der Bevölkerung weit verbreitet., in Deutschland hat jeder zweite Erwachsene mindestens einmal im Leben Nackenschmerzen. Hast du eine Erklärung dafür, warum so viele darunter leiden?
Christoph Thalhamer: In Ländern mit mittlerem oder höherem Einkommen gehört Nackenschmerz tatsächlich zu den fünf häufigsten Gründen für eine Funktionseinschränkung in Alltag und Sport (James et al. 2018). Die Prävalenz von Nackenschmerzen nimmt mit zunehmendem Alter zu. Frauen um das 50. Lebensjahr (5. Lebensdekade) sind dabei am häufigsten von Nackenschmerzen betroffen (Blanpied et al. 2017). Wichtig ist hervorzuheben, dass sich die Prävalenzzahlen in den vergangenen drei Jahrzehnten kaum verändert haben (Kazeminasab et al. 2022). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, warum die Lebenszeitprävalenz von Nackenschmerzen so hoch ist. Der Grund liegt darin, dass es eine Vielzahl potentieller Treiber gibt, die die Entstehung und Aufrechterhaltung von Nackenschmerzen fördern. Aus biomechanischer Sicht können beispielsweise Zwangspositionen (z.B. Musiker oder Mechaniker) oder lange gehaltene Positionen ein Treiber sein (Kim et al. 2018). Komorbiditäten und ein allgemein schlechter Gesundheitszustand sind ebenfalls Risikofaktoren. Zudem sind psychosoziale Faktoren wie beispielsweise Depression, mangelnde Schlafqualität oder chronischer Stress als Risikofaktoren hervorzuheben (Kazeminasab et al. 2022).
OSINSTITUT: Welche Beschwerden treten deiner Erfahrung nach am häufigsten auf?
Christoph Thalhamer: Am häufigsten sind definitiv lokale, nozizeptive Nackenschmerzen, der so genannte unspezifische Nackenschmerz (Kazeminasab et al. 2022, Mansfield et al. 2020, Safiri et al. 2020). Die Kunst besteht darin, in der Klinik sinnvolle Subgruppen in dieser Patient:innengruppe zu identifizieren. Das heißt konkret herauszufinden, welche dieser Patient:innen z.B. am besten auf wiederholte Bewegungen reagieren, welche Patient:innen auf Trainingstherapie oder auf manuelle Therapie am besten reagieren; dies natürlich stets unter Berücksichtigung des Lebensstils und psychosozialer Faktoren.
OSINSTITUT: Wie sieht die Differenzialdiagnostik aus?
Christoph Thalhamer: Die wichtigste Differentialdiagnostik ist zunächst die diagnostische Triage (Guzman et al. 2008). Wir teilen Patient:innen zunächst in eine von vier Gruppen ein: Patient:innen mit nozizeptiv-dominantem Nackenschmerz und gering oder stark ausgeprägter Behinderung, Patient:innen mit radikulären Läsionen und Patient:innen, deren Nackenschmerz auf eine schwerwiegende Pathologie zurückzuführen ist. Ausgehend von dieser groben Klassifizierung teilen wir die PatientInnen dann in weitere für die Behandlung sinnvolle Subgruppen ein. Am Ende der Diagnostik sollte stets ein individualisierter Therapieplan stehen, der alle Treiber für Schmerz und Behinderung berücksichtigt.
OSINSTITUT: Gibt es eine Übung, die in jeden Trainingsplan für Menschen mit Nackenschmerzen muss?
Christoph Thalhamer: Eigentlich nicht, da nicht jeder von der gleichen Übung profitiert. Am häufigsten untersucht wurde allerdings die Cranio-Cervikale Flexionsübung (de Zoete et al. 2020, Rasmussen-Barr et al. 2023, Villanueva-Ruiz et al. 2022). Diese Übung kommt vermutlich auch in der Praxis am häufigsten zum Einsatz.
OSINSTITUT: Worauf dürfen sich die Teilnehmer im Onlineseminar Update zur konservativen Diagnostik und Therapie von Nackenschmerzen freuen? Was erwartet sie?
Christoph Thalhamer: Die TeilnehmerInnen erwartet ein praktisch orientiertes, aber theoretisch fundiertes Seminar, in dem eine differenzierte evidenzbasierte Darstellung der physiotherapeutischen Diagnostik und Therapie der häufigsten Beschwerdebilder geboten wird. Ich werde auch das Problem der Subgruppen thematisieren und hier insbesondere die Kluft, die zwischen wissenschaftlicher Forschung auf der einen Seite und der Praxis auf der anderen Seite besteht.
OSINSTITUT: Abschließend: Hast du noch 3 Literaturtipps, die sich die Teilnehmer zu Gemüte führen sollten?
Christoph Thalhamer: Ich habe folgende Tipps:
- Jull et al. (2019). Mangement of neck pain disorders. A research informed approach. Elsevier
- Rasmussen-Barr et al. (2023). Summarizing the effects of different exercise types in chronic neck pain – a systematic review and meta‐analysis of systematic reviews. BMC Musculoskelet Disord, 24(1):806
- Tousignant-Laflamme et al. (2017). Rehabilitation management of low back pain – it’s time to pull it all together! Journal of Pain Research, 10: 2373-2385
Die Fragen stellte Nils Borgstedt
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