Am 19.10.2023 steht unser Onlineseminar zur „Rehabilitation nach Operationen an der lumbalen Bandscheibe“ auf dem Programm. Im Vorab-Interview haben wir mit unserem Referenten, dem Physiotherapeuten Christoph Thalhamer gesprochen. Unter anderem über die Herausforderungen für Therapeut:innen bei der Behandlung, Evidenz und das Treiber-Modell.
OSINSTITUT: Bandscheiben-Operationen sind auf dem Vormarsch. Insgesamt etwa 140.000 mal pro Jahr wird in Deutschland eine Bandscheibe operiert. Wie erklärst du dir aus therapeutischer Sicht diese Zahlen?
Christoph Thalhamer: Der Grund für die mengenmäßige Zunahme der Operationen ist empirisch noch nicht eindeutig geklärt. In Frage kommen aus theoretischer Sicht eine Zunahme an operationswürdigen Pathologien, eine Erweiterung der Indikationsstellung, wirtschaftliche Interessen und finanzielle Anreize, mit denen Operationen belohnt werden. Oder etwa eine Zunahme der Bildgebung im Laufe der letzten drei Jahrzehnte. Einflussreiche Autoren wie etwa Richard Deyo weisen darauf hin, dass sich die Zunahme der Mengenhäufigkeit von Wirbelsäulenoperationen, die wir seit Jahrzehnten international beobachten können, nicht alleine durch medizinische Gründe erklären lassen.
OSINSTITUT: Welche Herausforderungen gibt es für Therapeut:innen, die Patient:innen nach einer OP an der lumbalen Bandscheibe betreuen?
Christoph Thalhamer: Eine der größten Herausforderungen betrifft die unterschiedlichen Empfehlungen in Bezug auf die postoperative Nachsorge und Rehabilitation. Viele Physiotherapeut:innen in der Praxis machen die Erfahrung, dass die Empfehlungen über erlaubte Belastungen nach einer Wirbelsäulenoperation von Krankenhaus zu Krankenhaus teils stark voneinander abweichen. Van Erp et al. (2018) haben dies beispielsweise für Patient:innen nach lumbalen Fusionsoperationen gezeigt. Auch neuere Arbeiten wie z.B. jene von Alsiaf et al. (2022) kommen für Patient:innen nach lumbalen Bandscheibenoperationen zum gleichen Ergebnis. Weitere Herausforderungen sind u.a. die Steuerung der Trainingsprogression in der Rehabilitation und die Behandlung residualer neuropathischer Schmerzen. Letztere erfordern eine enge Zusammenarbeit mit Ärzt:innen (Chirurgen und Schmerzmediziner).
OSINSTITUT: Gib doch bitte mal einen kurzen Einblick in das Treibermodell, das du im Onlineseminar ja noch genau vorstellen wirst. Was steckt dahinter und wie setzt man es ein?
Christoph Thalhamer: Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat gezeigt, dass wir in der nicht-operativen Therapie muskuloskelettaler Beschwerden zwar spezifisch wirksame Therapien haben; aber dass alle diese Therapien nur kleine Effekte haben. Autoren um Tousignant-Laflamme et al. führen diesen enttäuschenden Befund darauf zurück, dass unsere bisherige Diagnostik und Therapie nicht alle relevanten biopsychosozialen Aspekte eines Patientenproblems berücksichtigt hat, sondern dass sie sich vorwiegend entweder auf biomedizinische, psychosoziale oder prognostische Aspekte des Patienten konzentriert hat. Tousignant-Laflamme et al. (2017) entwickelten als Reaktion darauf das Treiber-Modell für Schmerz und Behinderung – ein nicht-pharmakologisches, biopsychosoziales, ICF-basiertes Rehamodell, das alle relevanten Aspekte eines Patientenproblems berücksichtigt und das deshalb zu größeren Therapieeffekten führen soll.
OSINSTITUT: Wie sieht es mit der Evidenz in Sachen Behandlung nach Bandscheiben-OP aus? Gibt es Evidenz für ein bestimmtes Vorgehen?
Christoph Thalhamer: Grundsätzlich werden in der klinischen Praxis sehr unterschiedliche Rehabilitationspläne verfolgt (siehe z.B. Williamson et al. 2007). Rushton et al. (2016) publizierten die Grundstruktur eines Best-Practice-Programmes für die Rehabilitation von Patient:innen nach lumbalen Bandscheibenoperationen. An diesem Programm sollte man sich zunächst orientieren. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass es reicht, wenn die Reha nach einer komplikationslosen lumbalen Bandscheibenoperation nach vier bis sechs Wochen startet. Oosterhuis et al. (2017) konnten zeigen, dass ein früherer Start der Rehabilitation keine Vorteile bringt in Bezug auf Schmerzreduktion oder Funktionswiedergewinn. Natürlich kann in Einzelfällen auch früher begonnen werden; insbesondere dann, wenn beispielsweise Paresen vorliegen, wenn das neuropathische Schmerzgeschehen dominiert oder wenn Patient:innen verunsichert sind bezüglich der postoperativen Belastbarkeit. In der Rehabilitation und Therapieplanung ist eine konsequente Orientierung an den Zielen des Patienten sowie an den Befunden aus der biopsychosozialen Diagnostik essentiell.
Die Fragen stellte Nils Borgstedt
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