Dehnen gehört zum Standardrepertoire vieler Therapeut:innen, Coaches und Athlet:innen. Die angenommenen Effekte sind vielseitig und reichen von der Verletzungsprophylaxe bis zur Leistungssteigerung. Im Interview verrät Sportwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Jan Wilke, wie es sich mit dem Dehnen zur Vermeidung von Verletzungen und muskulräen Dysbalancen verhält; und gibt schließlich auch noch Tipps in Sachen Literatur.
OSINSTITUT: Über Dehnen wird unheimlich viel diskutiert. Unter anderem soll es der Verletzungsprävention von muskulären Verletzungen dienen. Ist dem wirklich so? Was sagt die wissenschaftliche Literatur dazu?
Jan Wilke: Wenn man sich die Gesamtheit der Verletzungen anschaut, ist die Antwort klar. Nein, Dehnen ist nicht geeignet, das Verletzungsrisiko zu senken. Es bedarf jedoch eines differenzierten Blicks. So zeigt sich bei ausschließlicher Betrachtung von Muskel- und Sehnenverletzungen ein leichter protektiver Einfluss.
OSINSTITUT: Und wie sieht es beim Dehnen zur Behandlung von muskulären Dysbalancen aus? Du hast dazu ja kürzlich ein Review publiziert.
Jan Wilke: Dehnen zur Behandlung von Dysbalancen ist in der Tat ein Klassiker. Unsere Übersichtsarbeit ist derzeit noch im Begutachtungsverfahren. Unsere Untersuchung zeigt jedoch: Dehnen ist zur Korrektur von muskulären Ungleichgewichten eher nicht geeignet.
OSINSTITUT: Wenn du eine Dehnübung auswählen könntest, um sie einem Sportler oder einer Sportlerin mit auf den Weg zu geben, welche wäre das?
Jan Wilke: Der Kneeling Calf Stretch.
OSINSTITUT: Warum?
Jan Wilke: Zum einen, weil ich fast bei allen Sportlern und Sportlerinnnen, die ich betreue, eine eingeschränkte Beweglichkeit des Sprunggelenks beobachte und sich Defizite hier auf die angrenzenden bzw. proximalen Gelenke auswirken. Zum zweiten, weil beim Dehnen der Wade der Soleus-Muskel gern vergessen wird. Und schließlich, weil sich die Übungsposition (Ausfallschritt) hervorragend in funktionelle Progressionen einbauen lässt.
OSINSTITUT: Welche Literatur, welche Artikel empfiehlst du denjenigen, die sich intensiv(er) mit dem Komplex Dehnen auseinandersetzen möchten?
Jan Wilke: Definitiv keine Bücher! Wissen verändert sich wahnsinnig schnell. Gerade beim Thema Dehnen produziert die Wissenschaft noch immer sehr aktiv neue Erkenntnisse und wenn ein Buch erschienen ist, sind die beschriebenen Sachverhalte oft schon wieder veraltet. Ich empfehle generell, den Mut zu haben, in klassischen Datenbanken wie Pubmed zu recherchieren. Neben Einzelstudien findet man hier sehr einfach systematische Reviews und narrative Übersichtsarbeiten, die einem die aktuelle Evidenz sehr präzise beschreiben.
Die Fragen stellte Nils Borgstedt
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