Nachgefragt
„Das Hirn muss mehr schwitzen als der Muskel selbst“ – Interview mit Christine Hamilton

Christine Hamilton ist Physiotherapeutin mit Arbeits-, Lehr- und Forschungsschwerpunkt muskuloskelettale Beschwerden. Sie ist Privatdozentin an der Universität Wien und Hochschule Osnabrück sowie Autorin zahlreicher Publikationen zum Thema „System PEP für lokale Stabilisation der Gelenke“. Die gebürtige Australierin spricht im Interview über die unterschiedlichen Bedingungen für Physiotherapeut:innen in Australien und Deutschland, gibt einen Einblick in die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in Sachen muskuloskelettale Beschwerden und hat Tipps für die Praxis parat für alle, die mit Schmerzpatienten arbeiten.

OSINSTITUT: Christine, du kennst sowohl die Gegebenheiten in Australien als auch in Deutschland – wie unterscheiden sich die Arbeitsbedingungen für Physiotherapeuten in beiden Ländern?

Christine Hamilton: Es gibt einige Punkte, in denen sich die Arbeit von Physiotherapeuten in Australien und Deutschland unterscheiden. Das geht los bei der Ausbildung, die in Australien schon immer einen akademischen Weg vorsah und endet beim direkten Zugang der Patienten zu Physiotherapeuten. Einen „Umweg“ über den Arzt, wie in Deutschland, gibt es nicht. Selbstverständlich überweisen wir in Australien Patienten auch an den Arzt, wenn wir Red Flags erkennen und merken, dass eine ärztliche Abklärung notwendig ist. Es geht immer um das Wohlergehen des Patienten und wir müssen daher schon wissen, wann unsere Kompetenzen nicht mehr ausreichen oder die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen notwendig ist.

Diese Möglichkeit des Erstkontakts und die damit vorhandenen Kompetenzen hat mir eines ganz deutlich gezeigt: Die gesellschaftliche Anerkennung und der Respekt vor meiner Person, meinem Status als Physiotherapeutin ist deutlich höher. In Deutschland ist es ein bisschen hierarchischer oder patriarchaler – wobei sich hier in den letzten Jahrzehnten sehr viel getan hat.


Interviewpartnerin Christine Hamilton

Christine Hamilton ist Physiotherapeutin mit Arbeits-, Lehr- und Forschungsschwerpunkt muskuloskelettale Beschwerden. Sie ist Privatdozentin an der Universität Wien und Hochschule Osnabrück sowie Autorin zahlreicher Publikationen zum Thema „System PEP für lokale Stabilisation der Gelenke“.

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OSINSTITUT: Du bist seit Jahrzehnten als Physiotherapeutin praktisch wie auch in Forschung und Lehre tätig. Wir wollen heute auch im Hinblick auf unseren Jahreskongress, bei dem du als Referentin dabei bist, ein bisschen über muskuloskelettale Beschwerden und Motor Control sprechen. Da hat sich in den letzten Jahrzehnten die Herangehensweise ja durchaus etwas verändert. Skizziere doch mal kurz die Unterscheide und wie die Entwicklung stattgefunden hat.

Das ist der Vorteil, dass ich so lange schon Physiotherapeutin bin und somit gut auf solche Fragen antworten kann (lacht). Ich habe praktisch alle Moden durchgemacht. Vor 40 Jahren gab es den Begriff der muskuloskelettalen Physiotherapie noch gar nicht – weder in Australien noch in Deutschland. Die Weiterbildung in Manueller Therapie hieß damals manipulative Therapie. Das heißt: die Orientierung in der Ausbildung und auch in der Weiterbildung der Physiotherapie war überwiegend Hands On mit – als Überbegriff – manuellen Techniken. Der Patient ist passiv und wird behandelt, wörtlich genommen. Auch heute ist das noch der dominierende Part in der Ausbildung. Etwa 80 bis 90 Prozent sind immer noch Hands On Techniken.

Aus Sicht der Wissenschaft ist das paradox. Seit Ende der 80ziger Jahre, spätestens aber seit den 90ern wissen wir, dass die Patienten bei der Behandlung von muskuloskelettalen Beschwerden aktiv beteiligt sein und selbst Verantwortung für ihre Beschwerden übernehmen müssen. Stichwort: Selbsthilfe.

Dass mittlerweile von „muskuloskelettal“ gesprochen wird, ist aber zumindest eine Anerkennung, dass die Muskulatur beim Beschwerdemanagement eine Rolle spielt – ob es nun Schmerzen sind, Schwindel oder andere Einschränkungen. Es hat also eine Entwicklung stattgefunden hin zu mehr Aktivität.

Der nächste Schritt ging dann in Richtung Edukation. Es geht darum, Schmerz zu verstehen. Ein großer Faktor in der Verarbeitung von Schmerzen ist die Angst. Solange ich keine Angst vor meinen Beschwerden habe, entwickle ich in der Regel auch keine Chronifizierung. Das heißt also: psychosoziale Faktoren spielen eine viel größere Rolle in der Verarbeitung von Schmerzen als der Gewebeschaden selbst. Daher lautet mein Ziel bei der Arbeit zum Beispiel mit Rückenschmerzpatienten, dass sie keine Chronifizierung entwickeln.

Diese Entwicklungen spiegeln sich in den Leitlinien und auch der ICF (International Classification of Function Anm. d. Red.) wider. Die Faktoren Eduaktion und Aktivität sollen eine größere Rolle in der physiotherapeutischen Behandlungspraxis spielen, Hands On sollte untergeordnet sein. Leider ist dem in der Praxis oft noch nicht so.


Christine Hamilton ist Referentin beim 9. Jahreskongress des OSINSTITUTs

Thema: Strategien der motorischen Kontrolle: eine praktische Einordnung


OSINSTITUT: Wie schaffe ich es denn in der Praxis, dass mein Patient nicht in die Chronifizierung rutscht? Wie gehst du also in der Praxis vor?

Wenn ich mit chronischen Schmerzpatienten arbeite, kommt der multimodale Ansatz zum tragen. Therapeuten sollten nicht nur mit den Händen arbeiten, sondern auf allen drei Ebenen: Hands on, Edukation und Aktivität des Patienten. Hands On ist dabei, wie gesagt, etwas untergeordnet.

In Sachen Edukation arbeite ich vor allem Angst abbauend. Ausnahme Sportler: bei ihnen muss ich manchmal andersherum arbeiten und sie eher bremsen. Sie neigen dazu, zu viel machen zu wollen. Und manche Patienten stehen zwischen diesen Polen – Angst vor Bewegung und Übermotivation. Ich muss als Therapeut also sehr individuell auf meinen Patienten eingehen, um diesen Balanceakt zu meistern. Gleichzeitig kläre ich die Patienten aber auch auf: Was ist ein Schmerzgedächtnis? Wie tragen Stress oder Mobbing am Arbeitsplatz zu Schmerz bei? Et cetera.

Dazu kommt der Hauptteil meiner Arbeit: Der aktive Part, zu dem auch die motorische Kontrolle zählt. Es gibt zwei Arten der Aktivität. Zum einen die allgemeine Aktivität, die in jeder Leitlinie für praktisch jede Krankheit empfohlen wird. Mein Ziel ist es also zum einen, dass sich die Patienten überhaupt bewegen – Treppensteigen, zu Fuß gehen, und so weiter. Aber diese Bewegungen sind natürlich keine explizit therapeutischen Übungen. Dennoch muss ich auch das als Therapeut fördern. Es geht darum, Mut und Motivation zur Bewegung zu vermitteln und den Patienten dahin zu begleiten.

Die zweite Ebene ist die therapeutische Aktivität, bei der ich ganz gezielt die muskulären Probleme des Patienten in Angriff nehme. Ganz häufig geht es dabei um motorische Kontrolle. Für die aktive Arbeit mit Patienten gilt ganz grundsätzlich: ich muss ihr Ziel kennen. Sowohl Käsereiben wie auch Joggen oder Speerwurf kann ein Ziel sein und beide Ebenen der Aktivität beanspruchen.

OSINSTITUT: Du hast die motorische Kontrolle angesprochen. Du forschst zu der Thematik – was würdest du sagen, sind die wichtigsten Erkenntnisse, die du in den Jahren deiner Forschungsarbeit diesbezüglich erhalten hast?

Vorweg: Es ist ganz wichtig, dass wir an dieser Stelle Motorische Kontrolle von muskulärem Aufbautraining abgrenzen. Motorische Kontrolle ist mehr Hirntraining als Muskelaufbau. Das Hirn muss mehr schwitzen als der Muskel selbst. Es geht also um koordinatives Training. Das Hirn hat zwei große Triebfedern: Schutz und möglichst effiziente und ressourcenschonende Ausführung der gestellten Aufgaben. Diese beiden Dinge bewertet es fortwährend. Und manchmal widerspricht das Bedürfnis nach Schutz dem Bedürfnis nach Ökonomie.

Um ökonomisch arbeiten zu können, muss das Hirn vom Körper genaueste Informationen erhalten. Wo bin ich im Raum? In welchem Zustand bin ich? In welche Gefahr begebe ich mich? Welche Angst habe ich vor dieser Bewegung? Denn wenn ich Angst vor einer Bewegung habe, dann wird meine Muskulatur anders angesteuert, als wenn ich keine Angst habe. Für eine optimale Bewegung brauche ich also: genaue Informationen, motorische Erfahrung, muskuläre Eigenschaften wie Ausdauer und Kraft, eine angstfreie Situation und gleichzeitig muss das Verlangen nach Schutz abgedeckt sein.

Dieser Schutz findet dabei auf vielen Ebenen statt. Aus einem muskuloskelettalen Betrachtungswinkel ist die tiefste Ebene der segmentale Schutz, also eine Zentrierung der Gelenkflächen. Die Wirbelsegmente müssen während der Bewegung möglichst zentriert, übereinander bleiben, um bestmöglich geschützt zu sein. Denn: Ein zentriertes Gelenk ist ein geschütztes Gelenk. Dafür brauche ich die gelenknahen Muskeln.

Eine Ebene darüber geht es um die axiale Haltungskontrolle, andere sprechen auch von Bewegungskontrolle, Haltungskontrolle oder lordotischer Kontrolle. Gemeint ist damit immer: Ich muss in der Lage sein, bei Alltagsbelastungen meine Lordose und Kyphose der Wirbelsäule zu halten. Ich muss also periphere Bewegungen ausführen können, ohne in der Wirbelsäule Ausweichbewegungen zu machen. Bei Hüft- und Kreuzschmerzpatienten sieht man dieses Ausweichen sehr häufig. Ihnen fehlt es oftmals an der axialen Kontrolle bei moderater Belastung. In dieser „Schutzebene“ sind ganz viele Konzepte der Physiotherapie angesiedelt, werden aber oft mit Tiefenkontrolle verwechselt, also dem für den segmentalen Schutz zuständigen System.

Die dritte Ebene ist das Gleichgewicht. Dafür muss mein Muskelsystem das Hinfallen vermeiden. Für diese postorale Kontrolle und die vorher genannte axiale Kontrolle brauche ich die starken Muskeln des oberflächlichen Muskelsystems. Aber: das tiefe Muskelsystem spielt bei der axialen Kontrolle und dem Gleichgewicht auch eine Rolle, denn in der tiefen Muskulatur befinden sich die meisten Muskelspindeln. Die Muskelspindeln wiederum geben viel Information an das Gehirn. Meine Tiefenmuskeln sagen dem Hirn, wo sich mein Kreuz gerade befindet. Will ich beispielsweise beim Anheben eines Beines mein Kreuz kontrollieren, muss ich erstmal wissen, wo mein Kreuz ist. Ohne die Informationen der tiefen Muskeln kann ich die oberflächlichen Muskeln nicht rechtzeitig oder adäquat ansteuern. Es ist nachgewiesen, dass Leute mit muskuloskelettalen Beschwerden häufig Wahrnehmungsstörungen haben. Ihr Hirn bekommt somit nicht die notwendigen Informationen.

Bei Bewegung interagieren die beschriebenen Ebenen und Systeme miteinander. Der springende Punkt für den Therapeuten ist, herauszufinden, auf welcher Ebene der Patient ein Problem hat. Und da muss er ansetzen. Laut der Forschung von Hodges, van Dieen, Hides und so weiter müssen wir übrigens immer am tiefen System ansetzen. Wir müssen immer erstmal die Hemmung der Tiefenmuskulatur aufheben. Und dann gehen wir weiter.

OSINSTITUT: Vielen Dank für die diese lange Ausführung, Christine, und das tolle Gespräch. Ich freue mich schon auf den Jahreskongress und deinen Vortrag „Strategien der motorischen Kontrolle: eine praktische Einordnung“.

Das Gespräch führte Nils Borgstedt


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