Rehabilitation nach Komplexverletzungen
Algorithmen richtig nutzen

Je komplexer eine Verletzung ist, desto schwieriger gestaltet sich die Rehabilitation. Richtig eingesetzt können Algorithmen auf mehreren Wegen helfen, die Rückkehr zur Aktivität nach Komplexverletzungen zu steuern – nicht nur in der Praxis sondern auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit.

Als Komplexverletzung versteht man „Frakturen oder Luxationen [...], die aufgrund ihres spezifischen Verletzungsmusters eine standardisierte Versorgung entweder erschweren oder nicht ermöglichen. [...] Sie sind in der Regel Folge hochenergetischer direkter oder indirekter Gewalteinwirkung (1).“

Komplexverletzungen können prinzipiell an jeder Körperpartie auftreten. Ein typisches Beispiel für eine Komplexverletzung der unteren Extremität ist eine multiligamentäre Knieverletzung, bei der mindestens beide Kreuzbänder gerissen sind. 

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Bei der Therapie bezeichnen Josten et al. eine möglichst frühzeitige Wiederherstellung der Gelenkintegrität als Gold-Standard, um eine „für das funktionelle Ergebnis essentielle frühfunktionelle Behandlung realisierbar“ zu machen (1). Eine längere Ruhigstellung des Gelenks ohne die Möglichkeit aktive und / oder passive Bewegungsübungen durchzuführen, führt zu erheblichen funktionellen Einbußen (1).

Ins gleiche Horn stoßen Pataki et. al, die in ihrer Kurzübersicht zu komplexen Frakturen mit Luxationen im Rück- und Mittelfußbereich schlussfolgern: „Frühe anatomische Reposition, stabile Transfixation und die postoperative Anwendung von frühfunktioneller Physiotherapie sind Voraussetzungen für die Prävention von Ischämie und das Erzielen eines guten klinischen Resultates (2).“

In der Rehabilitation können funktionsbasierte Algorithmen dem Therapeuten helfen, die Belastung des Patienten individuell zu dosieren. Sukzessive gelingt so Level für Level eine Rückkehr zur gewünschten Aktivität.

Was ist eigentlich ein Algorithmus?

Generell ist ein Algorithmus definiert als „eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten“, heißt es auf Wikipedia (3). Ihnen eigen ist ihre Eindeutigkeit in der Aussage: es gibt nur Ja oder Nein. Sie geben systematische Hilfen zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen (4). 

Auch wenn wir Algorithmen in erster Linie vielleicht mit Mathematik oder Programmierung in Verbindung bringen, muss uns klar sein, dass jeder von uns täglich Algorithmen einsetzt. Jedes Kochrezept ist im Grunde ein Algorithmus zur Zubereitung eines Gerichts. Wenn wir vor einer roten Ampel stehen bleiben, dann tun wir dies, weil wir uns einem Algorithmus unterwerfen, der uns eine maximale Sicherheit im Straßenverkehr verspricht.

Wie kann so ein Algorithmus in der Rehabilitation aussehen?

Auch im Umgang mit Patienten setzten wir jeden Tag bewusst oder unbewusst Algorithmen ein. Dabei kann es sich um die Vorgaben aus  internationalen Leitlinien handeln oder um Handlungsabfolgen, die sich ein Therapeut für sich überlegt hat und immer wieder anwendet. Da die Rehabilitation eines Patienten – gerade bei Komplexverletzungen – in den meisten Fällen eine interdisziplinäre Aufgabe ist, sollten Algorithmen standardisiert und nachvollziehbar sein. Somit können die eigenen Kollegen, Ärzte, Versicherungen und vor allem der Patient selbst besser verstehen, wie die Rehabilitation läuft. 

Als ein Beispiel wie ein Algorithmus für die aktive Rehabilitation aussehen kann, sei hier der Return to Activity Algorithmus (RTAA) vorgestellt. 

Ein Beispiel – der RTAA

Der RTAA besteht aus einer funktionsbasierten und individuellen Testbatterie, die sich an einer Einteilung in vier Level (I–IV) orientiert. In jedem Level wird die individuelle Belastungsfähigkeit und der funktionelle Zustand des Patienten mit Hilfe eines quantitativen und eines qualitativen Tests überprüft.

Bei der Testung wird jeder Test grundsätzlich immer auf beiden Seiten, beginnend mit der nicht betroffenen Seite durchgeführt. Bei den qualitativen Tests dürfen bis zu 10 Wiederholungen durchgeführt werden. Korrekturen und Coaching sind erlaubt. Erst nachdem der initiale qualitative Test bestanden wurde, darf der entsprechende quantitative Test durchgeführt werden (5).

Nur wenn der Patient beide Tests besteht, erreicht er das nächste Level. Um zu beurteilen, ob der Patient den Test jeweils erfolgreich absolviert hat, wird das Ergebnis hinsichtlich Qualität oder Quantität mit dem Ergebnis der nicht betroffenen Extremität verglichen. Die Level bauen stufenweise mit ansteigender motorisch-funktioneller Anforderung aufeinander auf und erfordern dynamische und statische Kontrolle bei der Ausführung von Basisfunktionen (6). 

Besteht er einen Test nicht, kann dem Patienten nicht empfohlen werden, die dem jeweiligen Level zugeordnete Aktivität auszuführen. Für die Rehabilitation bedeutet das, dass zunächst mit korrigierenden Übungen aktiv an einer Verbesserung der funktionellen Leistungsfähigkeit des Patienten zu arbeiten ist.

Bei jeder Testung muss immer bei den Tests für Level I begonnen werden. Wer also von Level II auf Level III kommen möchte, muss unmittelbar vorher die Tests von Level I und II absolvieren, auch, wenn er Level I bereits in einer früheren Sitzung bestanden hatte. Dies dient als Sicherheitsmaßnahme. Unerwartete Veränderungen bei der motorischen Kontrolle können so sofort erkannt werden (6).

Festzuhalten ist in jedem Fall, dass ein Algorithmus immer nur eine Hilfestellung bei Entscheidungen über den weiteren Verlauf der Rehabilitation geben kann. Folgende Übersicht zeigt, was der RTAA kann und was nicht.

Was kann der RTA Algorithmus nicht?

  • Er ersetzt nicht den diagnostischen Prozess.
  • Er ersetzt weder eine Leistungsdiagnostik noch einen Performance Test.
  • Er prüft nicht, ob ein Sportler wettkampffähig ist.
  • Er gibt keinen garantierten Schutz vor Retraumatisierung.

Was kann der RTA Algorithmus?

  • Er prüft die Belastbarkeit, die Funktionsfähigkeit und das Aktivitätslevel des Patienten.
  • Er eignet sich zur Verlaufsdokumentation.
  • Er dient als Dosierungshilfe sowie zur Steuerung der Rehabilitation und Trainingstherapie.
  • Er unterstützt bei der Kommunikation zwischen den einzelnen Disziplinen.

Fazit

Je komplexer eine Verletzung ist, desto aufwändiger ist ihre Rehabilitation. Bei der Rückkehr zu Aktivität und Sport kann ein Algorithmus eine Entscheidungshilfe für den Therapeuten während der Therapie darstellen. Durch objektive Kriterien, wie sie Algorithmen liefern, kann der Therapeut den individuellen Zustand seines Patienten einschätzen und so zum Schutz seines Patienten eine zu frühe Belastung der verletzten Struktur(en) vermeiden. Bei Komplexverletzungen, die in der Regel interdisziplinär behandelt werden, stellt ein Algorithmus zudem ein Kommunikationstool dar. Für den Patienten geben die erhobenen Daten eine Richtschnur vor, an der er sich orientieren kann und objektiv seinen momentanen Stand nachvollziehen kann.


Literatur

1. Josten C, Lill H (Hrsg). Ellenbogenverletzungen. Biomechanik, Diagnose, Therapie. Steinkopff Darmstadt. 2002

2. Pataki G. et. al. Komplexe Frakturen und Luxationen im Rück- und Mittelfußbereich. Knappschaftskrankenhaus Bottrop. Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie - Zentrum für Minimal Invasive Chirurgie. Online: https://www.kk-bottrop.de/Inhalt/Kliniken_ZentrenBereiche_Kooperationen/Kliniken/Klinik_fuer_Allgemein_
und_Viszeralchirurgie/Zusatzinfos/Medien/_doc/rueckfusspataki2005.pdf
.; abgerufen am: 10.01.2020

3. Seite „Algorithmus“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 8. Januar 2020, 14:52 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/ind... ; abgerufen: 10. Januar 2020  

4. Klinikum der Universität München. Klinik für allgemeine, Unfall- und Wiederherstellungstherapie. Algorithmen, Protokolle. Online: http://www.klinikum.uni-muenchen.de/Klinik-fuer-Allgemeine-Unfall-und-Wiederherstellungschirurgie/de/aerzte/downloads/algorithmen/index.html; abgerufen am 08.01.2020

5. Keller M et al. Interdisziplinäre Beurteilungskriterien für die Rehabilitation nach Verletzungen an der unteren Extremität: Ein funktionsbasierter Return to Activity Algorithmus. Sportverl Sportschad 2016; 30: 38–49 (kostenloser Download)

6. Keller M, Kurz E. Zurück zum Pre Injury Level – der RTA Algorithmus für die obere Extremität. Manuelle Therapie 2017; 21: 113–121 (kostenloser Download)